M. Frankl: Emancipace od židů [Die Emanzipation von den Juden]

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Titel
„Emancipace od židů“. Český antisemitismus na konci 19. století [„Die Emanzipation von den Juden“. Der tschechische Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts]


Autor(en)
Frankl, Michal
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Miloslav Szabó, Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin

Der Antisemitismus in Ostmitteleuropa hat eine lange Geschichte, aber eine junge Historiographie. Diese wohl etwas paradox anmutende Feststellung, in der sich die Klagen über jahrzehntelange Versäumnisse mit der Hoffnung auf die sich abzeichnende Wende innerhalb der jeweiligen nationalen Historikergilde verbinden, gilt insbesondere für die Erforschung des Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg. Die ostmitteleuropabezogene Geschichtsschreibung widmete sich vorwiegend der Erforschung der deutsch-österreichischen bzw. ungarisch-magyarischen Judenfeindschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und blendete die Anfänge des modernen Antisemitismus bei den „kleinen Völkern“ der Habsburgermonarchie weitgehend aus. Dies ist umso merkwürdiger, da gerade die Doppelmonarchie mit ihrer ethnisch-kulturellen Vielfalt und ihren sozialen Spannungen zu den wichtigsten Schauplätzen des modernen Antisemitismus in Europa gehörte.

Eine der Ursachen dieser Entwicklung liegt in den nationalhistoriographischen Rahmenbedingungen der Geschichtsforschung in Ostmitteleuropa. Dass der Antisemitismus ein europäisches Phänomen, einen trotz aller regionalen und sozialen Unterschiede seiner Herkunftsländer vergleichbaren Forschungsgegenstand darstellte, wurde in der Region selten erwogen. Ungeachtet der Eigenständigkeit des radikalen Antisemitismus förderte die Wahrnehmung der Shoa hier Vorstellungen einer unüberbrückbaren Differenz zwischen dem rassistischen Antisemitismus der jüngsten Vergangenheit und einer älteren sozial bzw. nationalistisch motivierten Judenfeindschaft im 19. Jahrhundert. Diese vermeintlich „andere Art“ des Antisemitismus deutete man in Ostmitteleuropa im Kontext entweder der jeweiligen sozialen oder nationalen Konfliktlagen.

Außerhalb des „Ostblocks“ wandten sich die Historiker bei der Erforschung der Anfänge des modernen Antisemitismus zunächst dessen politischen Erscheinungsformen in den 1880er- und 1890er-Jahren zu. Mit der Entfaltung der sozialgeschichtlich orientierten Historiographie rückten alsdann gesellschaftliche Auswirkungen des Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg in den Blickpunkt der Forschung, in jüngster Zeit werden zunehmend auch dessen kulturelle und diskurstheoretische Aspekte erörtert.1

In seiner Dissertation über den tschechischen Antisemitismus in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nun auch als Buch vorliegt, setzt sich der Prager Historiker Michal Frankl intensiv mit den unterschiedlichen Forschungstraditionen auseinander. Ihm gelingt – und dies kann vorweg genommen werden – ein Pionierwerk der Antisemitismusforschung für die böhmischen Länder, obwohl er sich fast ausschließlich auf den tschechischen Antisemitismus konzentriert und dessen deutschböhmisches Äquivalent nicht berücksichtigt. Frankls Hauptanliegen ist es, die gängige Argumentation der tschechischen Forschung, die den Antisemitismus ins Umfeld des Nationalitätenkonflikts zwischen Tschechen und Deutschen situiert, zu hinterfragen (S. 25–53).

Frankl zufolge bedeuten Interpretationsmuster, wonach der Antisemitismus lediglich eine Reaktion auf soziale Gegebenheiten gewesen sei, eine historiographische Reduzierung (S. 311). Dementsprechend beurteilt er auch die journalistischen Attacken der tschechischen Nationalisten gegen die bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhundert vorwiegend deutschsprachige böhmische Judenheit. Diese Anfeindungen, so Frankl, seien nur im Kontext der liberalen Forderung nach einer Assimilation der „vornationalen Gruppen“ an die moderne tschechische Nation zu verstehen (S. 53). Die Entwicklung des tschechischen, wie des mitteleuropäischen Antisemitismus überhaupt, sei dagegen eng mit den antiassimilatorischen, antiliberalen und antisozialistischen Tendenzen der Mehrheitsgesellschaft verknüpft (S. 17).

Parallel zur Ausbreitung des antiliberalen Diskurses und seiner Rolle für die Entwicklung des tschechischen Antisemitismus verfolgt Frankl den Antisemitismus in der kommunalen Politik der böhmischen Länder. Auch in Mähren, wo die tschechischen Nationalisten Anfang der 1890er-Jahre zur „Eroberung“ der lokalen Stadtverwaltungen übergingen, beobachtet Frankl eine eigentümliche Überschneidung des Nationalismus mit dem antiliberalen Diskurs. Während die nationale Spaltung zwischen Tschechen und Deutschen die radikalen Assimilationsforderungen gegenüber den Juden förderte, führte der Antiliberalismus die tschechischen Nationalisten zur antisemitischen Ideologie hin.2

Eine entsprechende Funktion, nunmehr mit antisozialistischer Speerspitze, erfüllten die Wahlen in Zisleithanien von 1897, die infolge des erweiterten Wahlrechts das Gewicht der sozialdemokratischen Partei, und in Reaktion darauf, das der antisemitischen Politiker in den böhmischen Ländern erheblich steigerten. Die intensive antisozialistische und antisemitische Propaganda in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und deren positive Aufnahme durch die tschechische Öffentlichkeit erlauben es Frankl, Shulamit Volkovs Deutung des deutschen Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg als eines „kulturellen Codes“, der verschiedene ideologische Einstellungen wie extremen Nationalismus, Rassismus, Antiliberalismus, Antisozialismus, Antifeminismus gleichsam überdacht habe3, auch auf den tschechischen Fall anzuwenden (S. 236–245).

Die nationalistische Propaganda in Böhmen uferte zwischen 1897 und 1899 in massive antijüdische (und antideutsche) Ausschreitungen aus. Frankl erklärt die Ereignisse im Kontext der neueren Forschungen zur antijüdischen Gewalt in Deutschland, die insbesondere Momente ihrer „Vorbereitung“, das heißt der intensiven Kommunikation, hervorheben.4 Die so genannte Hilsner-Affäre, in der der Jude Leopold Hilsner des (Ritual-)Mordes an einem christlichen Mädchen angeklagt und zum Tode verurteilt wurde, sowie das Echo dieser Ereignisse in der Öffentlichkeit bilden Frankl zufolge den Höhepunkt in der Entwicklung des tschechischen Antisemitismus zum kulturellen Code. Dadurch habe ein irrationales Vorurteil zur Voraussetzung einer „gesamtnationalen politischen Affäre“ in einer sich modernisierenden Gesellschaft werden können (S. 298).

Schließlich sei noch auf einige problematische Stellen in Frankls Studie sowie auf Anregungen hingewiesen, die sich für weitere Forschungen ergeben können. Problematisch erscheint vor allem die vom Autor gewählte analytische Erfassung der Wechselwirkungen zwischen dem radikalen Nationalismus und dem Antisemitismus. Es ist richtig, dass eine Gleichsetzung beider Phänomene die Historiographie nicht weiter führen kann. Eine Analyse des Stellenwerts des radikalen Nationalismus bzw. des Rassismus für den tschechischen Antisemitismus erfordert jedoch eine systematische Fragestellung. Wenn Frankl etwa von der Funktion der „organischen“ Auffassung der Nation bei den Katholiken für die Konstruktion von deren „jüdischem Gegensatz“ spricht (S. 123–128), hätte ihm ein systematischer Vergleich mit säkularen nationalistisch-antisemitischen Diskursen helfen können, seine allgemeinen Schlussfolgerungen über die „Natur“ des ethnischen Nationalismus und dessen Rollen für die Entfaltung des Antisemitismus differenzierter zu ziehen. Ein Zugriff auf den Begriffsapparat, wie ihn zum Beispiel Klaus Holz in seiner semantisch-analytischen Studie über den „nationalen Antisemitismus“ herausgearbeitet hat 5, wäre von Vorteil gewesen.

Die Zusammenarbeit zwischen Antisemiten verschiedener Nationalitäten (S. 84–93) rückt ein weiteres methodologisches Problem ins Blickfeld, das mit dem des „nationalen Antisemitismus“ eng zusammenhängt: den kulturellen Transfer oder ideologischen „Austausch“ zwischen den europäischen Antisemitismen. Frankls Untersuchung liefert hierzu einige Ansatzpunkte wie etwa die Rezeption des französischen Antisemiten Eduard Drumont in der tschechischen Öffentlichkeit (S. 106–110). Das Konzept des Kulturtransfers verspricht künftig auch für die Antisemitismusforschung mehr Erkenntnisgewinn zu bringen.

Eine Herausforderung für die Antisemitismusforschung in Ostmitteleuropa bildet gleichfalls der „ökonomische Antisemitismus“, so zum Beispiel der Boykott des jüdischen Gewerbes, den die tschechischen Theoretiker einer nationalen Autarkie unter der Parole „Svůj k svému (Jeder zu den Seinen)“ konzipierten (S. 93–103). Welche Entsprechung fanden diese Diskussionen unter der Landbevölkerung in wenig industrialisierten Gegenden der Doppelmonarchie? Inwiefern beeinflussten sie die Praxis der Verbraucher- und Kreditgenossenschaften – etwa in Mähren, Ungarn oder Galizien?

Die geschlechtsspezifischen Phantasien der mitteleuropäischen Antisemiten erfordern ebenfalls neue, methodologisch innovative Untersuchungen. Das Stereotyp des unmoralischen, sexuell ausschweifenden, und dadurch die „Volksgemeinschaft“ gefährdenden Juden, dessen sich auch die tschechischen Antisemiten häufig bedienten, wie Frankl in einem früheren Aufsatz erwähnt 6, haftete der europäischen Judenheit ein Stigma an, das schließlich genauso folgenreich wirken konnte, wie etwa der Vorwurf des „jüdischen Kapitalismus“.

Diese kritischen Anregungen sollen jedoch Frankls große Leistung keinesfalls schmälern. Er hat ein Neuland betreten und holte die jahrzehntelangen Versäumnisse der Historiographie des tschechischen Antisemitismus weitgehend auf. Frankl gelang es, einen weißen Fleck von der historischen Landkarte des europäischen Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg zu tilgen. Es bleibt zu hoffen, dass seine sehr gut lesbare Studie bald ins Englische oder Deutsche übertragen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Volkov, Shulamit, Germans, Jews, and Antisemites. Trials in Emancipation, Cambridge 2006, S. 67–82.
2 Vgl. Frankl, Michal, „Jerusalem an der Haná“. Nationaler Konflikt, Gemeindewahlen und Antisemitismus in Mähren Ende des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 15 (2006), S. 135–160.
3 Volkov, Shulamit, Antisemitismus als kultureller Code, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, S. 13–36, hier S. 22.
4 Vgl. Bergmann, Werner, Exclusionary Riots. Some Theoretical Considerations, in: ders.; Hoffmann, Christhard; Walser Smith, Helmut (Hrsg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor 2002, S. 161–184.
5 Vgl. Holz, Klaus, Nationaler Antisemitismus. Soziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.
6 Frankl, Michal, The Background of the Hilsner Case. Political Antisemitism and Allegations of Ritual Murder 1896–1900, in: Judaica Bohemiae 33 (1998), S. 34–118, hier S. 96.

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